Learning to Fly – part drei: must not come down.
Fliegen als Akt des Widerstands. Warum wir queere Kunst brauchen für die Revolution.
Dies ist der letzte Teil meines dreiteiligen Essays Learning to Fly. Dir fehlt Kontext? Dann husch mal schnell zu Teil eins oder Teil zwei.
CN: Mobbing, trans* Feindlichkeit.
Hier die Audio-Version:
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Aber nun zum heutigen Text!
Learning to Fly
part drei: must not come down.
Ich bin so überzeugt von meiner körpereigenen Fähigkeit fliegen zu können, dass ich das Projekt nun in meine eigenen Hände nehme.
Sandras Schnabelvorschlag war nett, aber langsam dämmert mir, dass wir für die Konstruktion eines Holzalbatrosses Werkzeug, Wissen und Muskeln bräuchten, außerdem sehr viel Holz, das wir weder bezahlen noch mit unseren Kinderrädern werden transportieren können.
Auch meine Eltern wissen inzwischen Bescheid über mein Vorhaben zu fliegen. Sie verkneifen sich ihr Lachen, sind begeistert von meiner Selbstüberschätzung und ich merke, dass sie mich nicht ernst nehmen. Die werden schon noch sehen!
Es braucht nur ein bisschen Bastelmaterial und eine halbe Stunde Arbeit, heimlich im Werkzeugkeller. Sie werden mir nicht glauben, dass es funktioniert, bis sie es mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen. Ich gebe meiner Familie und Sandra Bescheid, um 16 Uhr zur Lichtung in unserem angrenzenden Wald zu kommen. Sie brauchen nichts mitbringen, aber eins verspreche ich:
Sandra und ich werden heute fliegen.
Meine mittlerweile über meine anhaltende Überzeugung erstaunten Eltern erscheinen mit Sandra pünktlich an der Lichtung, an der ich bereits auf alle warte. Meine Freundin und ich laufen auf mein Geheiß den kleinen Hügel hinauf, auf dem im Winter manchmal Schlitten gefahren, jetzt aber der vertrocknete Rasen von uns betrampelt wird.
Von unten zuschauend beobachten dann meine Eltern, wie wir hinter dem Hügel mit ausgebreiteten Armen hervorgerannt kommen, als jage uns ein Ungeheuer, mit einem klaren Ziel vor Augen: Die Lichtung.
Doch rennen wir nicht nur, etwas scheint an unseren zur Seite ausgestreckten Armen zu kleben. Als wir näherkommen, erkennen sie es: Wir beide tragen Flügel aus Pappe, mit Gummiband um unsere dünnen Arme gebunden. Wir beginnen mit ihnen zu schwingen, wie Wildgänse kurz vor dem Abflug, unsere glücklichen Blicke in die Luft gerichtet, immer schneller werdend rasen wir bergab auf die Lichtung zu, in dem definitiven Wissen:
Gleich. Gleich ist es so weit. Dann sind wir schwerelos.
Wenn ich an diese Geschichte zurückdenke, überkommt mich eine große Sehnsucht. Ein Neid auf die Unbeschwertheit dieser glücklichen Kindheitsjahre, auf die Langeweile, die mir dort geschenkt war, und vor allem auf diese große Überzeugung, dass die Luft mich tragen würde.
Ich sehne mich danach, getragen zu werden, Halt zu erfahren.
Queerness, und vor allem Transness, bedeutet für mich: Jeden Tag wieder fliegen, in die Luft steigen, und das obwohl ich nie genau weiß, ob die Luft mich heute tragen wird. Jeden Tag die Kraft und den Mut aufbringen, mir meine Pappe zurechtzuschneiden und sie mir an die Arme zu binden, sodass sie zu Flügeln wird.
Queerness bedeutet für mich aber auch: Die Luft, die trägt, für andere zu sein. Halt zu geben und zwar nicht nur meinen Liebsten, sondern allen Menschen, egal wie anders sie sind als ich. Queerness bedeutet für mich Revolution.
Queerness bedeutet, den Luftraum für mich und alle anderen Unterdrückten dieser Welt frei- und Gegenwind auszuhalten, Hindernisse für mich und andere aus dem Weg zu räumen und feindliche Angriffe bis aufs Blut zu verteidigen. Meine Flügel haben heute integrierte Schutzkrallen.
Queerness ist Revolution.
Queerness bedeutet für mich, kreativ zu sein. Mir Kunst zu erlauben.
Wir Queers müssen kreativ sein, weil wir trotz den immerwährenden Versuchen, uns zu verbieten, hartnäckig weiter existieren.
Unsere Identität ist bereits ein Kunstwerk. Unsere Leben sind Performances of courage. Unsere Geschichten sind fragmentiert, unsere Ahnen ausgelöscht – und trotzdem sprechen wir weiter.
Wir schaffen uns selbst, Tag für Tag. Wir imaginieren eine Welt, in der wir das Privileg haben, gewöhnlich sein zu dürfen, wenn wir wollen. Oder besser gesagt: Eine Welt, in der unsere wunderschönen, glitzernden Existenzen mit der Bewunderung gesehen werden, die sie verdient haben! I mean, have you seen trans femmes?
Kurz nachdem ich mit Sandra über die Lichtung geflogen bin, habe ich begonnen stiller zu werden. Auf dem Boden zu bleiben. Aber heute, hier, auf dieser Bühne, traue ich mich wieder, mich zu zeigen. Meine Kunst ernst zu nehmen und mich und meine Texte einem Publikum zuzumuten.
Ich denke an unsere queeren Vorfahren und wofür sie gekämpft haben, wofür sie gestorben sind. Für mich, für uns und dafür, dass wir leben und uns zeigen dürfen. Welche Beleidigung es ihnen gegenüber wäre, zu verzweifeln und uns zu verstecken.
Sie brauchen unsere Kunst. Wir brauchen unsere Kunst. Ich brauche eure Kunst. Ihr braucht meine Kunst. Lasst uns nicht aufhören und weiterfliegen.
Queere Kunst ist Revolution.
Danke, dass du bis zum Ende gelesen hast, das bedeutet mir die Welt. Abonniere mein Substack kostenlos, dann bekommst du jeden neuen Text gleich in deine Inbox und unterstützt dabei eine queere Schreibmaus. Wenn du auf ältere Texte zugreifen möchtest, freue ich mich über dich in der paid Subscribers-Community!
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Stay safe. And if that's not an option, stay fierce.
Tommi
Wer schreibt:
Tommi Thomsen (they/them). In meiner Kolumne This is Tommi. Live creatively as a Queer* nehme ich euch mit bei dem Versuch, ein kreatives Leben zu führen.
Ich schreibe über Themen wie Queer-Feminismus, Antikapitalismus und alternative Lebens- und Liebesentwürfe.
Am liebsten verpackt in guten Geschichten, orientiert an meinen persönlichen Erlebnissen.
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